Sonja Anne Blüml / 17. 12. 2015

Korsett mit Widerhaken: Das Frauenleben in der Gründerzeit

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Fürs Haus. Wochenschrift.
Praktisches Wochenblatt von 1912
für alle Hausfrauen.

 

Manchmal lohnt ein Blick zurück.
Was hat vor 100 Jahren die Frauen bewegt? Worum drehten sich ihre täglichen Mühen? Sind die Themen und Anliegen der Frauen in der Gründerzeit so viel anders als heute? Ein Blick auf das praktische Wochenblatt aus dem Jahre 1912 gibt Antworten. Und schmeichelt dem Auge mit feinen Zeichungen und ästhetischen Jugendstil Illustrationen.

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Herausgegeben von Clara von Studnitz (1844 – 1927)
Sie war Schriftstellerin und Tochter des königlich preußischen Oberst und Kommandanten von Flensburg Robert von Studnitz. Ihre Ausbildung erhielt sie im königlichen Lehrerinnenseminar bei Zeitz, arbeitete als Erzieherin in der Schweiz und Konstantinopel, lebte bei ihrem Bruder in London, bereiste mit ihm England, Schottland, Irland, Frankreich, New York, Montreal, Quebec. Im Oktober 1882 gründete sie zusammen mit ihrem Bruder die Wochenschrift „Fürs Haus“ in Dresden.

Sie gilt als die interessanteste und erfolgreichste Hausfrauen-Zeitschrift der damaligen Zeit. Das Einzelheft kostete weniger als 10 Pfennig – das Wochenblatt erreichte bereits 1889 eine Auflage von 100.000 Exemplaren.FullSizeRender Kopie-7

Für Interessierte ein damals schier unerschöpfliches Reservoir an Modeneuheiten und Handarbeitsmöglichkeiten zur Zeit der Jahrhundertwende 1900. Besonders nett die phantasievollen Moden zu Gelegenheiten wie Fasching oder Kostümball: Verkleidungen als Kapuzinerkresse, Schleiereule, griechischer Wein, Germania – oder das Kostüm „Das große Los“ im 20. Jahrgang.

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Das Wochenblatt enthält neben Mode u.a. folgenden Rubriken: Am Webstuhl der Zeit; Fuer die Kueche; Fuers kleine Volk; Arzt fuers Haus; Fernsprecher; Unterhaltungsbeilage mit Fortsetzungsroman sowie weitere Artikel zum Zeitgeschehen. Und natürlich „schoene alte Werbung“.

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Die Lever Brothers gründeten 1885 die Seifenfabrik. Sunlight Soap war damals innovativ, weil sie Palmöl statt Talg für die Seifenherstellung verwendeten und fand großen Absatz. Was in 100 Jahren draus geworden ist, verrät die Geschichte von Unilever .

Kinder – Küche  – Kirche

Politik und Wirtschaft sind 1912 noch ausschließlich Männerdomänen. Das liegt daran, dass es der Frau in den meisten Bundesländern untersagt ist, in politischen Vereinen aktiv zu werden oder auch nur an politischen Versammlungen teilzunehmen. Frauen kommen höchstens in den Werbeanzeigen vor, immer dann, wenn es ums Kochen und Backen geht. In den Anzeigen suchen „bessere Mädchen“ Stellen in gutbürgerlichen Haushalten, möglichst in „feiner katholischer Familie“. Das Tauschgeschäft lautet „Kenntisse im Hauswesen“ und „Säuglingspflege“ gegen „Taschengeld“ und „Familenanschluss“.

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Ein paar Seiten weiter findet der Leser Loblieder auf die Mutterliebe und Anweisungen für „Überwinterung unserer Zimmerpflanzen“ und Rezepte für „russischen Salat“.

lagis.online.uni-marburg.de

Das Frauenbild der Jahrhundertwende ist noch klar geprägt: Tugendhaft, rein und freundlich soll das weibliche Geschlecht sein.

„Kaiserzeit war Männerzeit: schneidiger Schnurrbart, stramm sitzender Rock, selbstbewusster Auftritt. Um standesgemäß zu reüssieren, investierte der gutbürgerliche Mann unverhältnismäßig hohe Summen. Gäste wurden im Salon hinter gründerzeitlicher Prunkfassade empfangen. Die repräsentative Gattin servierte mehrgängige Diners und beförderte so die Karriere des Herrn Gemahls. Die gutbürgerliche Frau war von Beruf Gattin, die familiäre Vorherrschaft hatte der Mann inne“°.

Ohne die Erlaubnis des Gatten darf die Gemahlin weder arbeiten noch über eigenes Geld verfügen oder entscheiden, wo sie leben möchte. Sie hatte nicht einmal das Recht auf ihre Kinder. „Das Einzige, was ihr als Hausfrau zustand, war die Schlüsselgewalt über die Speisekammer“°.

Die Frau ist für die Familie zuständig. Ein geordnetes Familienleben wichtig. Die Familie muss das Gegenstück zur bedrohlichen und feindlichen äußeren Welt darstellen. Das Idealbild der Frau folglich auch Gegenbild zur Rolle des Mannes. Sie soll behütet und „unberührt“ sein. Es ist verpönt, dass sie bereits sexuelle Erfahrungen vor der Ehe macht.
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Doch es bahnt sich auf allen Ebenen ein leiser Umbruch und Ausbruch aus diesem Korsett an.

Immer mehr Frauen beginnen, sich gegen dieses Missverhältnis aufzulehnen. Sie fordern Rechte ein, lehnen sich auf gegen ihr sinnfreies Dasein, das auf dekorative und repräsentative Funktionen reduziert ist und nur dazu dient, der männlichen Übermacht in Gesellschaft und Privatem weiterhin zuzuspielen. Kinderfrauen, Hausangestellten und Köchinnen, die ihr täglich Brot verdingen müssen, werden nach und nach darüber aufgeklärt, dass es aus dieser Form der diskrimierenden und ungesunden Abhängigkeit von den Herrschaften kein Entrinnen und kein Fortkommen geben kann.

Die Entwicklung läuft auf zwei Schienen: während die Frauenbewegung vor allem gegen die rechtliche und finanzielle Benachteiligung und für mehr Gleichberechtigung kämpft, streben Lebensreformerinnen wie  Ottilie Hoffmann in erster Linie an, das Alltagsleben der Frauen zu verbessern. Der Verzicht auf Korsett und Hut ist eine große Errungenschaft, schenkt er doch den Frauen in jeder Hinsicht mehr Spielraum, Luft und Weitblick. Ebenso ist ein Reformkleid ohne Bordüren und Schärpen nicht nur bequemer sondern auch günstiger. Ein Kurzhaarschnitt praktischer. Und das für Frauen bis dahin kaum übliche Radfahren ließ sie mobiler werden.
Das Haus als Enklave und Isolierung der weiblichen Macht zeigt sich auch in dem architektonischen Umstand, dass die Küchen in Gründerzeitvillen nicht zufällig im hinteren Hausbereich lagen. Es entstehen nun mehr und mehr Möglichkeiten und Orte, an denen Frauen sich außerhalb des Hauses in der Öffentlichkeit aufhalten und frei bewegen können. Volkshochschulen zur Weiterbildung, Sportstätten, Luftkuren und Schwimmbäder vergrößern den Radius und die Einflussmöglichkeit der Frauen.

Das Engagment vieler mutiger Vorreiterinnen führt letztlich auch zu Bewegung auf breiterer gesellschaftlicher Ebene. Hier ist der Umbruch deutlich zu spüren. Das Versammlungs- und Vereinsverbot wird 1908 abgeschafft und nach und nach öffnen sich die Parteien für Frauen. Auf Initiative von Clara Zetkin, Theoretikerin und Organisatorin der proletarischen Frauenbewegung, wurde 1911 der Internationale Frauentag zum ersten Mal begangen. Am 19.11.1918 wird endlich das freie Wahlrecht für Frauen und Männer ab 20 Jahren in Deutschland eingeführt. Mit dem ersten Weltkrieg verändert sich die Aufgabe und Bedeutung der Frau in der Gesellschaft noch einmal zwangsläufig.

In Deutschland wird die Frau aber letztlich erst ein halbes Jahrhundert später – nämlich 1958  – mit dem Gesetz über die Gleichberechtigung über Mann und Frau unabhängig von ihrem Mann.

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Und wie ist es heute – 100 Jahre später?

In Deutschland sind Männer und Frauen vor dem Gesetz gleich – sie haben dieselben Rechte und Pflichten. Mädchen und Frauen besuchen heute die Schule, sie machen eine Ausbildung ihrer Wahl, studieren und gehen arbeiten. Sie definieren sich nicht mehr über Mann, Kinder, Küche oder Kirche. Sie sind wirtschaftlich unabhängig geworden. Es ist für uns inzwischen selbstverständlich, dass Frauen wahlberechtigt sind. Selbst hochdotierte Posten in Wirtschaft und Politik sind heute weltweit von Frauen besetzt. Chefwechsel bei Microsoft Deutschland: Erstmals übernimmt mit Sabine Bendiek eine Frau die Spitzenposition des US-Technologieriesen für den deutschen Markt. Susan Wojcicki gilt als einflussreichste Frau im Silicon Valley und ist seit letztem Jahr zur Chefin des Videoportals Youtube ernannt worden. Janet Yellen ist Vorsitzende der amerikanischen Notenbank FED und herrscht über die Leitzinsen und damit über die Weltwirtschaft. Und Angela Merkel ist erste deutsche Bundeskanzlerin und gilt als mächtigste Frau der Welt.

Von der Kaiserzeit zur Kaiserin?
Kaiserinnen hat es immer gegeben. Erfolgreiche Frauen, die sich an die Spitze gekämpft haben. Wie aber lebt der Großteil der Frauen in Deutschland und den Industrienationen heute? Wie leben die Frauen in dem restlichen Teil der Welt? Was bedeutet heute „Gleichberechtigung“ und ist sie gleichzusetzen mit Selbstbestimmheit? Welche Anforderungen haben Frauen heute zu erfüllen, welchen davon unterwerfen sie sich freiwillig und welche sind ihnen vielleicht gar nicht bewusst? Ein genauer Blick darauf ist sicher lohnenswert. (Artikel folgt)

In jedem Fall ist es naheliegend, das praktische Wochenblatt vom 20. Oktober 1912 als nettes Relikt zu beschmunzeln, stammt es doch aus einer Zeit, die für uns schon nicht mehr wahr ist.  Ein unbrauchbar gewordenes Zeitzeugnis von lediglich antiquarischem Wert, das wir im Regal und in unseren Köpfen ablegen können? Zu weit weg scheinen die Nöte der Frauen, ihre „kleine Welt“ zwischen Küche und Großbürgertum, ihre Stickerein auf Leinen und die Welt der Druckknöpfe, Garne und Nähmaschinen. Doch wir vergessen vielleicht allzu schnell, dass wir jeden Schritt, der seither gewonnen ist in hundert langen Jahren, genau diesen Frauen zu verdanken haben, die damals wie heute mutig und beherzt ihre Anliegen vertreten und dafür gekämpft haben.

„Zu wissen, dass die Zeitgenossinnen meiner Großmutter nicht nur brave Ehefrauen, Mütter, Hausfrauen und Köchinnen waren, sondern vielmehr eine Generation potenzieller Freiheitskämpferinnen, gibt ihrem Dasein eine neue Dimension und meinem Leben neue Kraft.“
Midge Mackenzie, britische Filmregisseurin und Autorin

Unsere Töchter heute zu beobachten, wie selbstverständlich sie in Freiheit und völliger Unbekümmertheit in die Welt hinausgehen und sich mit Neugierde, Forschergeist und Kraft ins Leben stürzen, ist erhebend. Zu sehen, wieviel Energie sie haben für ihre Wünsche und Ziele, weil sie nicht permanent in Nebenschauplätzen gegen bestehende Käfige und Begrenzungen kämpfen müssen – ist ein Geschenk, das nicht selbstverständlich ist. Ein Grund mehr, große Freude und Dankbarkeit zu empfinden für den langen, nicht immer einfachen Weg, den uns diese Frauen geebnet haben. Ich würde gerne mit diesem Artikel eine Blume niederlegen für jede einzelne von ihnen, die mit ihrem Herzblut gezeichnet und gekämpft hat für unser aller Würde, Freiheit und Selbstentfaltung als Zeichen meines Respekts. Ganz besonders stolz bin ich auf meine Urgroßmutter, die Künstlerin Anna Soennecken-Beckmann (1887-1970) und meine Großmutter Anne Marie Soennecken (1909-1964).
Anna Soennecken-Beckmann
Anne Marie Soennecken
Anna Soennecken-Beckmann und ihre Tochter Anne Marie Soennecken

3 thoughts on “Korsett mit Widerhaken: Das Frauenleben in der Gründerzeit

  1. Wundervolle Auswahl an kreativen Inspirationen – sehr geschmackvolles Design, dabei klug kommentiert, humorvoll und scharfsinnig ausgewählt – eine erfrischend andere Seite zum schmökern und nachdenken. Chapeau! In ungeduldiger Erwartung auf Ihre nächsten Veröffentlichungen, ihr treuer Fan P.

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