Sonja Anne Blüml / 06. 04. 2020

Prokrastination

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Angenommen, jemand würde Sie fragen:
„Wie effektiv arbeitest du eigentlich an deinen Zielen?“
Wäre Ihnen diese Person noch sympathisch?

Ich habe eine Freundin, die startet jeden Tag damit, Werbeprospekte zu lesen und danach die Küche zu fegen. Sie findet das beruhigend. Vor 10.30 Uhr ist sie arbeitstechnisch nicht ansprechbar. Dann wäre da noch ein Bekannter. Er besitzt mehrere Wecker. Sie klingeln alle zeitversetzt und viel zu früh. Es schallen abwechselnd – im Abstand von wenigen Minuten – computeranimierter Hahnengesang, ein Schuss Lady Gaga und Trompetenfanfaren durchs Schlafzimmer. Trotz der Wecker-App „Lustiger Morgenalarm“ springt er jeden Morgen eher unlustig und viel zu spät aus dem Bett und rast dann im Eiltempo zur Arbeit.

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Und was ist Ihre erste Tat morgens nach dem Aufstehen? Wie beginnen SIE eigentlich für gewöhnlich Ihren Morgen? Nehmen Sie direkten Kurs auf Ihre Ziele oder dümpeln Sie eher herum?

„Morgenstund’ hat Gold im Mund“, behauptete schon Erasmus von Rotterdam im 15. Jahrhundert. „Aurora musis amica“ schrieb er an seinen Schüler Christian Northoff: Die Morgenstunde ist die Freundin der Musen. Schön. Die gute Aurora ist vermutlich auch schuld daran, dass eingefleischte Frühaufsteher sich in ihrer Lebensweise bestätigt fühlen. Vom „Blei im Hintern“ wollte Rotterdings zumindest nichts wissen.
Spätaufsteher haben in unserer Welt sowieso einen schweren Stand: Sie gelten als träge und undiszipliniert. Die Morgenlerchen dagegen als fleißig und produktiv. Sie – die Earlybirds – sind die potenziellen Leistungsträger und Erfolgstypen, während  „Nachteulen“ meist eher als faule Künstlernaturen abgetan wurden, die es zu nix bringen.
So lernen die kleinen Russen schon in der Schule, dass Freunde der Morgenröte schmackhafte Pilze sammeln, während die Langschläfer sich mit Brennesseln begnügen müssen.
Der große Russe, Wladimir Putin, ist dagegen bekennender Nachtmensch und steht entsprechend spät am Vormittag auf, zum Mittagessen gibts Frühstück: Hüttenkäse und einen Smoothie (vermutlich ohne Brennesseln). Danach geht er schwimmen. Erst am Nachmittag ist er ansprechbar für seine Mitarbeiter. Sein Kollege Obama gesteht ebenfalls, dass er kein Frühaufsteher ist – immerhin beginnt er seinen Tag mit Fitnesstraining und sitzt ab 9.30 am Schreibtisch. Womit bewiesen wäre, dass man es trotz Nachteule zu was bringen kann.
Die Frage ist also weniger, ob wir früh oder spät aufstehen – sondern eher, was wir den REST des Tages so mit unserer Zeit anstellen. Und da gibt es ein weit verbreitetes Problem, das in einem herrlichen Begriff, der kaum ausprechbar ist, zusammengefasst werden kann:
Aufschieben, auch Prokrastination (lateinisch procrastinatio „Aufschub, Vertagung“; abgeleitet über procrastinare „auf-/verschieben, vertagen“ von pro „vor“ und crastinus „morgig“), Erledigungsblockade, Aufschiebeverhalten, Erregungsaufschiebung, Handlungsaufschub oder Bummelei (im Volksmund auch Aufschieberei oder Aufschieberitis), ist das Verhalten, als notwendig, aber unangenehm, empfundene Arbeiten immer wieder zu verschieben, anstatt sie zu erledigen. Aufschieben gilt als schlechte Arbeitsgewohnheit. Drei Kriterien müssen erfüllt sein, damit ein Verhalten als Prokrastination eingestuft werden kann:
Kontraproduktivität, mangelnde Notwendigkeit und Verzögerung.1

 

Super. Klingt richtig ermutigend… Vor dem geistigen Auge klappt sie augenblicklich auf: die „Absch(l)ussliste“, die man seit Tagen – ach was – Monaten in der geheimen Brusttasche mit herumschleppt. Diese vielen unerledigten Päckchen, die mit der Zeit immer schwerer wiegen – mit all den großen und kleinen, wichtigen und unwichtigen, sinnvollen und schwachsinnigen „To Do’s“. „Ich brauch dringend einen neuen Job. Ich könnte wenigstens mal damit anfangen, die Stellenanzeigen durchzulesen..“, „103 Kilo! Wahnsinn. Wann ist DAS passiert? Ich melde mich sofort bei Mc Fit an. Obwohl besser ist es nach Weihnachten. Macht mehr Sinn…“  über  „Gütiger Gott! Ist das wieder dunkel in meinem Leben! Ich muss jetzt wirklich mal diese Halogenbirne xy für die kaputte Wohnzimmerlampe besorgen, erhältlich in … äh – also das erstmal bis Ende der Woche herausfinden!“ bishin zu „Ich wollte immer mal Geige spielen, hab es aber nur bis Triangel im Kindergarten-Orchester gebracht.. obwohl, Marimbaphon wäre eigentlich auch ganz prima!

Würde man stichprobenartig in Köpfe gucken und Gedanken lesen können (so wie die Engel in Wim Wenders „Himmel über Berlin“https://www.youtube.com/watch?v=uzFGEx9SkDg): würde ein nicht unbeträchtlicher Teil unserer Gedanken einen nicht unerheblichen Teil des Tages gebetmühlenartig diese To-Do’s abspulen. Bevor Sie jetzt aber schlechte Laune bekommen oder gar einen Film deswegen schieben, gucken Sie sich diesen hier an:

Diese Aufschieberitis – irgendwo kennt man das schon aus Kindertagen oder?
Genetisch bedingt? Erinnert es doch an längst vergessene Zeiten, als jede Begegnung mit Mutter oder Vater im Hausflur uns klargemacht hat, was für vergessliche Nieten wir damals mit fünf schon waren. Jeder Satz begann mit „HAST DU….!?“ (im Kinderzimmer das Licht ausgeknipst/die Spülmaschine ausgeräumt/die Heizung abgedreht/Hausaufgaben gemacht/deine nassen Badesachen aufgehängt/Triangel geübt?) Wie elend muss man sich gefühlt und dann kopfschüttelnd eingestanden haben: nein, hab ich noch nicht…
Ist demnach kein Wunder, dass man 40 Jahre später immer noch mit dieser Liste im Kopf herumläuft – und mit permanent schlechtem Gewissen! Und mit Löchern in den Schuhen. „Ah da fällt mir ein, Schuhcreme! Unbedingt gleich morgen besorgen. Obwohl zum Schuster müsste ich eigentlich vorher.. Aber jetzt vor Weihnachten? Das macht keinen Sinn. Da kann ich mich gleich bei Mc Fit im Neuen Jahr anmelden. Und auf dem Weg dahin die Schuhe vorbeibringen. Ja, das macht Sinn! Da ist doch auch der Trödelladen am Eck, da bring ich die Triangel hin. Diese blöde Triangel…“

Aber wo war ich noch gleich? Ach ja. Aufschieben, nicht zum Punkt kommen.
Wie überwinden wir nun dieses Übel? Was tun gegen chronische Lähmungserscheinungen vor unliebsamen Aufgaben? Was für Methoden ziehen wirklich und welchen Zeitmanagement-Blödsinn muss man sich gar nicht erst reinziehen? Gibt es auch Belohung später oder warum sollte man sich mit diesem Thema gerade jetzt überhaupt beschäftigen? Carpe Diem heißt es doch! Das ist auch Latein. Und sagt das Gegenteil. Oder? Mann mann mann – das Leben zieht vobei, während wir uns über Luxus-Probleme den Kopf zerbrechen. Noch dazu welche, die man nicht mal aussprechen kann…

Also wirklich. Ich muss das sacken lassen. Das ist zu anspruchsvoll.
Wir könnten mal Frau Guse fragen. Die hat immer gute Antworten..

 

2 thoughts on “Prokrastination

  1. ….das einzige Mittel gegen Aufschieberitis das ich kenne ist Disziplin. So, wie man sich täglich neu die Zähne putzen muss, muss man sich jeden Morgen neu für seine Ziele motivieren, und diese in kleinere, bewältigbare Etappen einteilen.

    Andre allerdings sagt, es ist nur eine Frage der Energie, die dir zur Verfügung steht…

  2. Ja, ja, was Du heute nicht machst kannst ja auch morgen machen. Kennen wir ja. Aber ein Aspekt wurde noch nicht beleuchtet. Viele Dinge erledigen sich von selbst, wenn man sie aufschiebt. Oder wie sagt der Kollege Hannemann immer: „Am Ende kackt die Ente“. Man kann sich auch übereifrig hineinsteigern und immer alles durchstressen. Wie auch immer: die Mitte ist der Weg. Ich z.B. fange immer an Rechnungen zu schreiben, wenn gar nix mehr geht. Das motiviert! Oder ich gebe meiner Frau ein Küsschen und chille noch ein bisschen. Das ist auch ok.
    Also Motto: hang around but do the right things at the right time. Passt ja zum Montag. Eure Jaqui!

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