Sonja Anne Blüml / 05. 05. 2016

Die Kunst des Liebens

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30 Thesen zur Liebe nach Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, 1956

1.) Das Grundproblem der menschlichen Existenz ist das Bewusstsein der eigenen Abgetrenntheit. Sie ist die Quelle von Angst, Scham und Schuldgefühlen, die durch Rauschzustände aller Art, Konformität mit der Gruppe oder schöpferisches Tätigsein zeitweise überwunden werden können. Die einzige voll befriedigende Antwort findet man aber in der zwischenmenschlichen Vereinigung, in der Liebe. Der Wunsch danach ist das stärkste Streben im Menschen.

2.) Symbiotische Vereinigungen sind unreife Formen der Liebe, bei denen zwei Menschen versuchen, dem Problem ihrer Existenz zu entgehen, indem sie sich voneinander abhängig machen. Reife Liebe ist eine Vereinigung, bei der die eigene Integrität und Individualität bewahrt bleiben. In ihr werden zwei Wesen eins und bleiben trotzdem zwei; sie sind miteinander eins, indem sie mit sich selbst eins sind, anstatt vor sich selber oder vor ihrer Einsamkeit zu fliehen.

3.) Liebe bedeutet nicht das Fehlen jeglicher Konflikte. Wirkliche Konflikte, die nicht dazu dienen, etwas zu verdecken oder auf den anderen zu projizieren, führen zu einer Klärung, aus der beide Partner wissender und gestärkt hervorgehen. Ob Harmonie, Konflikte, Freude oder Traurigkeit herrschen, ist nur von sekundärer Bedeutung gegenüber der grundlegenden Tatsache der Liebe, dass zwei Menschen sich selbst und den anderen vom innersten Wesen ihres Seins her erleben.

4.) Liebe ist nicht das Resultat sexuellen Glücks, sondern umgekehrt. Sexuelle Begierde kann auch durch den Wunsch zu erobern, Eitelkeit oder Angst vor Alleinsein stimuliert werden. Auch Verliebtheit wird oft mit Liebe verwechselt, ist aber nicht von Dauer und ihre Heftigkeit vielleicht nur Beweis dafür, wie einsam man vorher war. Die einzige Frucht, an der die Liebe zu erkennen ist, ist die Tiefe der Beziehung und die Lebendigkeit und Stärke in jedem der Liebenden.

5.) Liebe ist kein passiver Affekt, sondern eine aktive Kraft im Menschen, ein Akt des Gebens ohne die Erwartung, etwas dafür zurückzubekommen. Es bereitet nicht deshalb mehr Freude als das Empfangen, weil es ein Opfer darstellt, sondern weil darin die eigene Lebendigkeit zum Ausdruck kommt. Dadurch wird auch im Gegenüber etwas zum Leben erweckt, das dann auf den Geber zurückstrahlt. Liebe ist eine Macht, die Liebe erzeugt.

6.) Das Problem der Liebe besteht nicht darin, geliebt zu werden und möglichst liebenswert zu sein (z.B. durch Attraktivität, charmantes Auftreten oder Gutmütigkeit), sondern darin, lieben zu können. Die bewusst wahrgenommene Angst, nicht geliebt zu werden, ist in Wirklichkeit oft die unbewusste Angst davor, zu lieben. Wer wirklich lieben kann, ist nicht mehr abhängig davon, geliebt zu werden, sondern spürt in sich das Vermögen, Liebe durch Liebe zu wecken.

7.) Bei der Liebe geht es nicht darum, die eigenen Eigenschaften, die gerade als attraktiv gelten, möglichst vorteilhaft auf dem Markt zu platzieren und das bestmögliche Objekt zu ergattern, das angesichts des eigenen Tauschwerts erschwinglich ist. Es ist ein Irrtum zu denken, nur den richtigen Partner zu finden sei schwierig, zu lieben aber sei ganz einfach und komme dann von allein. Liebe kommt nicht durch ein Objekt zustande, sondern aufgrund einer Fähigkeit.

8.) Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person, sondern eine Haltung, eine Charakter-Orientierung. Lieben heißt soviel wie gegenüber jedem eine liebevolle Haltung einnehmen; es gibt keine „Arbeitsteilung“ zwischen der Liebe zu den eigenen Angehörigen und der Liebe zu Fremden. Wenn ich jemanden wahrhaft liebe, dann liebe ich in ihm alle Menschen einschließlich mir selbst, dann liebe ich durch ihn die ganze Welt, dann liebe ich das Leben.

9.) Liebe enthält in all ihren Formen immer vier Grundelemente: Fürsorge als tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben; Verantwortungsgefühl als freiwillige Antwort auf seine ausgesprochenen oder unausgesprochenen Bedürfnisse; Achtung vor dem anderen als Wunsch, dass er sich um seiner selbst Willen entfaltet und nicht mir zuliebe; Erkenntnis als Streben danach, ihn so zu sehen, wie er wirklich ist.

10.) Nächstenliebe ist die fundamentalste Art von Liebe und liegt allen anderen Formen zugrunde. Sie ist die Liebe zu allen menschlichen Wesen, auch zu denen, die für uns keinen Zweck erfüllen. Sie gründet sich auf die Erfahrung, dass wir alle eins sind, nicht an der Oberfläche, aber im menschlichen Kern, der uns allen gemeinsam ist. Seinen Nächsten lieben heißt, sich für ihn verantwortlich und sich eins mit ihm zu fühlen, von Mitte zu Mitte zu ihm bezogen zu sein.

11.) Erotische Liebe ist das Verlangen nach vollkommener Vereinigung mit einer anderen Person. Sie ist zwar exklusiv, da ich mich mit ganzer Intensität nur mit einem einzigen Menschen vereinigen kann, aber sie liebt im anderen die ganze Menschheit, alles Lebendige. Da wir alle eins sind und gleichzeitig einzigartig, ist die erotische Liebe sowohl ein starkes, auf individueller Anziehung beruhendes Gefühl, als auch ein Willensakt, eine Entscheidung.

12.) Selbstliebe ist das liebevolle Interesse an sich selbst, die Bejahung des eigenen Lebens, des eigenen Glücks und Wachstums und der eigenen Freiheit. Sie ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden: Wenn ein Mensch fähig ist, andere zu lieben, dann liebt er auch sich selbst; wenn er aber nur andere lieben kann, dann kann er überhaupt nicht lieben. Selbstsucht ist Ausdruck mangelnder Liebesfähigkeit und damit das Gegenteil von Selbstliebe.

13.) „Mütterliche“ Liebe ist die bedingungslose Bejahung des Lebens und der Bedürfnisse des Kindes bzw. des Hilflosen. Reife Mutterliebe enthält auch den Wunsch nach seiner Loslösung und vermittelt ihm nicht nur den Willen, am Leben zu bleiben, sondern auch die Liebe zum Leben, nicht nur die Milch, sondern auch den Honig des Lebens. Um Honig spenden zu können, muss man nicht nur eine „gute Mutter“ sein, sondern auch ein Mensch, der sein eigenes Leben liebt.

14.) „Väterliche“ Liebe ist an Bedingungen geknüpfte Zuneigung, die erworben werden muss und kann; man wird seiner Verdienste wegen geliebt. Mütterliche Liebe muss nicht erworben wer- den, man kann sie aber auch nicht erwerben; man wird geliebt, weil man das ist, was man ist. Ihre Synthese im Innern – als „mütterliches und väterliches“ Gewissen – bildet die Grundlage für seelisch-geistige Gesundheit und Reife, und damit auch für eine reife Liebesfähigkeit.

15.) Gottesliebe ist die religiöse Form der Liebe und entspringt dem Bedürfnis, in Gott das Gefühl von Einssein zu erfahren. Ihr Charakter hängt davon ab, inwieweit Gott als bedingungslos liebende Mutter, als belohnender und bestrafender Vater oder als Symbol für Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe verstanden wird. Reife Gottesliebe heißt, das in sich zu verwirklichen, was „Gott“ in einem selbst bedeutet, und drückt sich in jeder Handlung des Lebens aus.

16.) Die Liebe ist eine Kunst, die in Theorie und Praxis erlernt werden muss. Dazu muss sie uns mehr am Herzen liegen als Erfolg, Prestige, Geld und Macht. Außerdem benötigt man Geduld, Disziplin – als Ausdruck des eigenen Wollens, nicht als etwas von außen Aufgezwungenes – sowie Konzentration, d.h. die Fähigkeit, ohne Ablenkung mit sich selbst allein sein zu können, wirklich zuhören zu können und sich bei allem, was man tut, ganz dem Moment hinzugeben.

17.) Man kann die Kunst des Liebens nur erlernen, wenn man ein Gespür für sich selbst erwirbt. Am wichtigsten dafür ist die einfache Gegenwart reifer, liebender Menschen, die uns als Vor- bild dienen, an unsere Möglichkeiten glauben und uns dabei helfen, sie zu realisieren. Unsere kulturelle Tradition gründet sich in erster Linie nicht auf die Vermittlung von Wissen, sondern auf die Weitergabe bestimmter menschlicher Wesenszüge und Haltungen, wie die der Liebe.

18.) Die Hauptvoraussetzung für die Fähigkeit zu lieben ist, dass man seinen Narzissmus überwindet, d.h. dass man Menschen und Dinge so sieht, wie sie sind, und dass man dieses objektive Bild von demjenigen trennen kann, das durch die eigenen Wünsche und Ängste verzerrt ist. Die der Objektivität zugrunde liegende emotionale Haltung ist die Demut, und diese ist genauso unteilbar wie die Liebe. Man kann sie nur allen Menschen gegenüber besitzen oder keinem.

19.) Objektivität, Demut und Liebe erfordern Glauben, und zwar keinen, bei dem man sich einer irrationalen Autorität unterwirft, sondern einen Charakterzug, der im eigenen Denken und Fühlen wurzelt. Er entspricht der Überzeugung, dass sowohl man selbst als auch andere in ihrer Grundhaltung, im Kern ihrer Persönlichkeit, in ihrer Liebe zuverlässig und unwandelbar sind, und dass der eigenen Liebe die Fähigkeit innewohnt, bei anderen Liebe hervorzurufen.

20.) Liebe als Akt des Glaubens erfordert Mut, also die Fähigkeit, ein Risiko einzugehen, und die Bereitschaft, auch Schmerz und Enttäuschung hinzunehmen. Um Schwierigkeiten, Rückschläge und Kümmernisse nicht als ungerechte Strafe zu betrachten, sondern als Herausforderung, deren Überwindung uns stärkt, benötigt man Glauben und Mut. Man braucht sie jeden Abend, um einschlafen zu können, und kann sie auch sonst in jedem Augenblick des Lebens üben.

21.) Grundlage des Glaubens und damit der Kunst des Liebens ist die Produktivität im Sinne eines aus sich heraus Tätigseins, eines freiwilligen Gebrauchs der eigenen Kräfte. Die Fähigkeit zu lieben erfordert einen Zustand der Aufnahmebereitschaft, Wachsamkeit und Aktivität, der nur das Ergebnis einer produktiven und tätigen Orientierung in vielen Lebensbereichen sein kann. Ist man auf anderen Gebieten nicht-produktiv, so ist man es auch in der Liebe.

22.) Der Höhepunkt des Glaubens an sich selbst und an andere wird im Glauben an die Menschheit erreicht, d.h. daran, dass der Mensch das Potential in sich trägt, eine von den Grundsätzen der Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe getragene Gesellschaftsordnung zu errichten. Er gründet sich auf die unleugbaren Leistungen der Menschheit in der Vergangenheit und auf die Erfahrungen, die man mit seiner eigenen Fähigkeit zu Wachstum, Vernunft und Liebe macht.

23.) Die Liebesfähigkeit eines Menschen hängt vom Einfluss der Kultur ab, in der er lebt. Eine Gesellschaft, die in der Arbeit und im Konsum reibungslos funktionierende Menschen braucht, führt zur Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seinen Mitmenschen und von der Natur. Ein entfremdeter Automat kann aber nicht lieben, und das versucht er wiederum durch seine Arbeits- und Vergnügungsroutine zu kompensieren, oder durch „Pseudoliebe“.

24.) Gesellschaftlich bedingte Pseudoliebe ist die Liebe als Teamwork, als Tauschhandel, bei dem man seine persönlichen Vorzüge austauscht und auf ein gutes Geschäft hofft, als schützender Hafen vor der Einsamkeit, als Egoismus zu zweit von zwei Menschen, die ihre Interessen in einen Topf werfen und gegen eine entfremdete Welt zusammenstehen. Sie führen vielleicht eine oberflächlich „funktionierende“ Beziehung, bleiben sich aber ihr ganzes Leben lang fremd.

25.) Eine individuelle Form der Pseudoliebe ist die oft als „wahre Liebe“ erlebte abgöttische Liebe, bei der man den eigenen Kräften entfremdet ist und sie auf die geliebte Person projiziert. Die sentimentale Liebe wird nicht im Hier und Jetzt mit einem realen Menschen erlebt, sondern in der Fantasie, in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Eine dritte Form ist dadurch gekennzeichnet, dass das eigene Existenzproblem auf den Partner oder die Kinder projiziert wird.

26.) Alle Formen von Pseudoliebe dienen als Droge, die die Schmerzen der Wirklichkeit, das Alleinsein und die Abgetrenntheit des Einzelnen lindert. Reife Liebe ist nur möglich, wenn zwei Menschen sich selbst und den anderen im innersten Wesen ihres Seins erleben und sich aus der Mitte ihrer Existenz heraus miteinander verbinden. Die so erfahrene Liebe ist eine ständige Herausforderung; sie ist kein Ruheplatz, sondern bedeutet, sich zu bewegen und zu wachsen.

27.) Ebensowenig wie Automaten einander lieben können, können sie Gott lieben. In einer Kultur, die sich auf Gleichgültigkeit und Egoismus gründet, in der Nächstenliebe durch unpersönliche Fairness ersetzt wurde, in der alles Streben auf Erfolg und materiellen Komfort ausgerichtet ist, sehen die Menschen die Liebe zu Gott teilweise als Methode, um erfolgreicher zu werden. Man ruft nach ihm, wenn man ihn braucht, ist sich aber selbst genug, solange man nur spielen kann.

28.) In einer Gesellschaft, die darauf basiert, dass jeder den eigenen Vorteil sucht, in der alle Aktivitäten wirtschaftlichen Zielen untergeordnet werden, und deren gesamte Organisation vom Geist des Marktes beherrscht wird, ist die Liebe zwangsläufig eine individuelle Randerscheinung. Auch wenn solch eine Gesellschaftsordnung genug persönlichen Spielraum lässt, um im Alltag Liebe zu leben, ist das ihr zugrunde liegende Prinzip mit dem Prinzip der Liebe unvereinbar.

29.) Wenn der Mensch im großen Maßstab zur Liebe fähig sein soll, dann muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat muss ihm dienen, und nicht er ihm. Er muss am Arbeitsprozess aktiven Anteil nehmen, anstatt nur bestenfalls am Profit beteiligt zu sein. Die Gesellschaft muss so organisiert werden, dass die soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird.

30.) Wenn die Liebe die einzige vernünftige Lösung des Problems der menschlichen Existenz darstellt, dann muss jede Gesellschaft, die die Entwicklung der Liebe behindert, auf die Dauer an ihrem Widerspruch zur menschlichen Natur zugrunde gehen. Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als gesellschaftliches Phänomen, an eine von Liebe getragene Gesellschaft, ist also ein berechtigter Glaube, denn er gründet sich auf die Einsicht in das Wesen des Menschen.

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